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Scheuklappen im Schnelligkeitswahn

Mit Live-Tickern und -Blogs wollen Online-Medien ihre Stärke zur Echtzeitkommunikation ausspielen. Gespeist werden diese Formate meist nur mit Material aus anderen journalistischen Quellen. Dabei kann User Generated Content hilfreicher sein – wenn man ihn zu verifizieren weiß. Anmerkungen zur Diskussion über den Schnelligkeitswahn im Onlinejournalismus auf der Konferenz „Besser Online 2011“.



Fachtagungen wie „Besser Online“ haben eine Krux: Sie decken eine große Bandbreite an Themen ab und das mit einer Vielzahl an meist qualifizierten Diskutanten, dass es schwerfällt, einen großen gemeinsamen Nenner zu finden. Den erwarten aber viele Teilnehmer, deren Fazit dann eher zwiespältig ausfällt, siehe hier, hier und hier.

Ich konzentriere mich daher an dieser Stelle auf das Thema, das ich für mich, vielleicht auch für die Branche am relevantesten fand: Die Abschlussdiskussion zum Thema „Hyperventilation: Zu schnell, zu brutal, zu ungenau – über den Schnelligkeitswahn im Onlinejournalismus“. Meines Wissens nach auch das einzige Panel, von dem es ein Video gibt:

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Am visionärsten gerierte sich wieder einmal US-Prof und Internet-Apologet Jeff Jarvis, der dem Podium zu Beginn via Skype zugeschaltet war. Er ist begeistert von der Möglichkeit der Echtzeitkommunikation, sieht den journalistischen Publikationsprozess als einen einzigen digitalen Fluss und einen Printartikel als Nebenprodukt. Das ist mir so zu pauschal, es kommt schließlich nicht darauf an, wo ein Artikel steht, sondern wie gut und aufschlussreich er ist. Guten Journalismus kann man auf allen Kanälen machen. Sympathischer ist mir seine Idee, dass Journalisten gerade bei Live-Berichten oder Live-Tickern ganz klar auf Transparenz setzen sollen:

1. sie sollen klarstellen, was sie wissen

2. sie sollen offenlegen, was sie NICHT wissen

3. sie sollen ihr Publikum fragen, was dieses weiß

1. versteht sich von selbst. Punkt 2 fehlt hierzulande noch weitestgehend, vielleicht aus falscher Angst vor dem Leser, als schlechter Journalist zu gelten, was dann ausschließt, Punkt 3 zu beherzigen. Hinzu kommt, dass unter Journalisten nach wie vor eine starke Kollegenfixierung verbreitet ist, man bezieht sich nur auf Informationen journalistischer Provenienz, sei es aus dem Nachrichtenagentur-Ticker, Radio, Fernsehen oder Konkurrenz-Websites. Dabei hat das Gros der Nachrichtenschaffenden (beim Live-Tickern) Scheuklappen auf, weswegen ihnen entgeht, was es abseits der klassischen journalistischen Pfade an wertvollen Informationen gibt.

Für fast jedes Thema gibt es Fachleute, die von einer Sache mindestens genauso viel verstehen wie Journalisten (die gerade im News-Bereich oft eher Generalisten als Spezialisten sind). Im Prosumenten-Zeitalter nutzen die Mitteilungswilligen auch die Gelegenheit, selbst zu publizieren. Sei es in den eigenen Webpräsenzen oder eben als Feedback zu einem Artikel auf einer Seite wie SPIEGEL Online oder faz.net. Leserhinweise, vor allem von Augenzeugen, können sehr nützlich sein.

„Man kann sich einen guten Ruf erarbeiten, wenn man das Kuratieren gut macht“

Natürlich ist hier eine ordentliche Verifizierung gefragt, um Wichtigtuer und Agitatoren auszusortieren. Für die Überprüfung dieses Inputs, der oft über social networks läuft, braucht es Redakteure, die sich darauf verstehen. Davon gibt es noch nicht allzu viele, einer der profiliertesten ist der amerikanische Radio-Journalist Andy Carvin. Gute Tipps zum Umgang mit und zur Überprüfung von Breaking News gibt es auch im Lab-Blog von Steffen Leidel und Marcus Bösch (die ich bei Besser Online schmerzlich vermisst habe; dabei wäre es für die zwei Trainer der Deutschen Welle in Bonn ein Heimspiel gewesen).

Stefan Plöchinger, Chefredakteur von sueddeutsche.de, riet dazu, beim Live-Tickern nicht zu schnell zu überdrehen und auch dabei das klassische Zwei-Quellen-Prinzip zu beherzigen. Das Kuratieren der besten Web-Inhalte zu aktuellen Themen hält er für ein Tätigkeitsfeld mit Zukunft. „Man kann sich einen guten Ruf erarbeiten, wenn man das Kuratieren gut macht“, sagte er. (gibt es da schon Beispiele bei sueddeutsche.de? Mir ist noch keins untergekommen, außer Blogschauen, die aber nur sammeln und nicht einordnen).

Die journalistische Sorgfaltspflicht ist im Zeitalter der Echtzeitkommunikation so gefragt wie nie zuvor, hinzu kommt die Fähigkeit, user generated content zu überprüfen und in den richtigen, weiterführenden Kontext zu stellen. Bei letzterem haben die meisten Journalisten noch Fortbildungsbedarf. Ausbilungseinrichtungen nehmen das erst peu a peu in ihre Lehrpläne auf. Doch das (soziale) Netz steht als Werkzeug, Informationen zu filtern und zu überprüfen, jedem zur Verfügung. Jeder Journalist, der will, kann sich das selbst beibringen. Er/sie muss es nur wollen.

 

P.S.: Sehr nutzwertig fand ich bei „Besser Online“ auch das Panel „Datenjournalismus“. Lorenz Matzat hat auf einer EtherPad-Seite einige, besonders gelungene Beispiele zusammengefasst.

Dies ist ein Crosspost von onlinejournalismus.de

5 Gedanken zu „Scheuklappen im Schnelligkeitswahn“

  1. Der Schnelligkeitswahn ist doch eigentlich nur im Newsbereich überhaupt „richtig“. Für alles andere als Tagesgeschehen kann man im Internet viel mehr leisten als auf Papier. Es tut nur noch niemand.

  2. Ja, das Wettrennen, der Erste zu sein, ist vor allem bei Nachrichtenmedien verbreitet. Ich habe das als Politik-Redakteur bei sueddeutsche.de erlebt. Dabei gerät schon mal die alte Reuters-Devise „be first, but first be right“ unter die Räder. Im Zweifelsfall bin ich lieber nur Zweiter oder Dritter, aber Hauptsache, die Fakten stimmen und ich muss nicht zurückrudern.

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