Digital Natives machen sich gerne über „Twitter-Tussis“ und „Internet-Vorleser“ im Fernsehen lustig. Weil der durchschnittliche Zuschauer im Öffentlich-Rechtlichen aber 60 ist, werden die Erklärbären noch eine Weile auf Sendung sein.
Es sind vor allem die Großevents wie die US-Wahl oder die Fußball-Weltmeisterschaft, bei denen im deutschen Fernsehen die „Internet-Vorleser“ Hochkonjunktur haben: In der Regel Mitarbeiter um die 30, die vom Hauptmoderator mit Fragen wie „Und was sagt das Netz dazu?“ eingebunden werden. Dass oft Frauen diesen Job übernehmen, hat Stefan Winterbauer von Meedia zu einem unsäglichen Artikel veranlasst, dessen Verlinkung ich mir hier spare. Dabei hat er den Begriff „Twitter-Tussi“ geprägt, den viele Netzreporter – meist ironisch -aufgegriffen haben. Es entspann sich eine lesenswerte Diskussion über Sinn und Unsinn solcher Internet-Vorleser im TV.
Dennis Horn vom WDR hält es für Realsatire, wenn sich Menschen vor eine Kamera stellen und Tweets vorlesen, schreibt er im WDRBlog.
Er stört sich daran, dass das Internet durch Internet-Vorleser zu einem Paralleluniversum wird: „Wir stellen das Internet im Fernsehen immer noch als „virtuelle Welt“ dar, als „Cyberspace“, der nichts mit dem „echten Leben“ zu tun hat.“ Sein prägnantes Fazit:
Ich träume von einer idealen Fernsehsendung. Einer ohne Internet-Vorleser. Mit einer Redaktion, die online ist. Und mit Moderatoren, die sagen, was Sache ist -egal, ob sie davon per Brieftaube, Telefon, Zeitung, E-Mail oder Twitter erfahren haben. Vielleicht können die Internet-Vorleser dazu beitragen: indem sie sich selbst abschaffen.
Damit rief er vielfachen Widerspruch vor: Im eigenen Haus widersprach ihm Stefan Moll, Leiter des Programmbereichs Internet, der nichts dabei findet, das Neue im Alten zu erklären:
Zeitungen haben das Radio erklärt, später das Fernsehen. Radio und Fernsehen und Zeitungen haben das Internet beschrieben und erklärt – und nun tun sie das mit sozialen Medien. Warum denn nicht?
Moll findet auch Blogger seien im Endeffekt Internet-Vorleser und das sei gut so:
Ich habe was Interessantes gefunden, ich kann es einordnen oder analysieren und ich will das Ergebnis möglichst vielen zeigen.“ Das ist es, was Journalisten eben tun.
Frederic Huwendiek, nach eigenen Worten „Twitter-Tussi“ vom ZDF zielte in einem Google+-Post in die gleiche Richtung:
Internet-Vorleser und Twitter-Tussis erklären und analysieren Zusammenhänge, Hintergründe und neue Entwicklungen – journalistischer Auftrag wie Alltag. Ich bin überzeugt: Das Internet ist weiter erklärungsbedürftig.
Huwendiek sieht Internet-Vorleser als „Mensch gewordenes Storify. Im Idealfall kuratieren sie für uns relevante Debattenbeiträge aus dem World Wide Wust.“ Und er bringt einen Aspekt in die Diskussion, den man als netzaffiner Mensch vielleicht gerne mal übersieht: den digital Gap, den es nicht nur in Redaktionen gibt, sondern auch in der ganzen Gesellschaft. Da ist was dran, gerade im Fernsehen. Das Durchschnittsalter der Zuschauer liegt bei ARD und ZDF bei jeweils 60 Jahren! Vor diesem Hintergrund scheinen mir die Internet-Vorleser gerechtfertigt. Die 60jährigen, die das Netz aktiv nach relevanten und spannenden Geschichten, Blogposts und Tweets durchstöbern, dürfte bestenfalls im Promillebereich liegen. Hier gibt es in jedem Fall einen Bildungsauftrag, der durch Netzreporter, Internet-Vorleser oder meinetwegen Twitter-Tussis erfüllt werden sollte. Das findet auch Richard Gutjahr, Freier Mitarbeiter beim BR:
Die 6o-jährige Schwiegermama hat keine Ahnung, was ein Retweet ist, da braucht man einen Botschafter, der das übersetzt.
In der ARD gab es in der US-Wahlnacht einen sehr prominenten Botschafter: NDR-Fernseh-Chefredakteur Andreas Cichowicz. Der 51-Jährige twittert zwar selbst erst seit dem 18. Oktober, arbeitete sich aber schnell ein. Dass er den Job im Ersten übernahm, lag zum einen daran, dass es in den ARD-Anstalten außer Richard Gutjahr (der in der Wahlnacht aber in den USA war, um dort für die Tagesschau zu bloggen) kaum junge netzaffine Fernsehgesichter gibt. Andererseits wertet ein Chefredakteur diesen Job natürlich enorm auf. „Dass sich Andreas Cichowicz nicht zu schade war, die Rolle des Internet-Vorlesers zu übernehmen, hat Twitter, Facebook oder Storify enorm aufgewertet – und damit die Stimme des Zuschauers“, bilanziert Gutjahr.
Ob Cichowicz die allerauthentischste Besetzung für den Job als Internet-Erklärbär war, sei dahingestellt. Immerhin hat er das Twittern nach getaner Arbeit nicht eingestellt. So lange das Fernsehen von einer alternden Mehrheit über Kabel oder Satellit empfangen wird, werden wir dort wohl noch Internet-Vorlesern und Twitter-Tussis begegnen. Wen das nervt, der hat genügend Möglichkeiten, selbst im Netz die für ihn/sie relevanten Infos zusammenzusuchen.
Dieser Post ist zuerst auf www.onlinejournalismus.de erschienen.
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